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Torsten Woitkowitz: Die Erstellung eines Substantivartikels am Beispiel des kulturgeschichtlich interessanten Wortes horn

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Vaterunser (um 790), Abrogans-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen

Sehr geehrte Damen und Herren!
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort “Horn” hören? Vermutlich werden die meisten zuerst an das Tierhorn, etwa das Horn von Kühen, denken und als zweites an das Blasinstrument oder umgekehrt. Ob dies auch schon die vorherrschende Bedeutung im Frühmittelalter war, in der Zeit der Karolinger und Ottonen, der Hochzeit der althochdeutschen Sprachperiode? Diese und ähnliche Fragen kommen einem beim Beginn der Arbeit an einem derartigen Artikel, bei dem sich ein Wort äußerlich nicht verändert hat.

Gehen wir an das Material. Die Lemmakartei, d.h. die Stichwortkartei weist uns auf Kasten 85 unseres nach Wortfamilien geordneten Materialarchivs. Hinter der Steckkarte “horn” steht ein etwa ein Zentimeter dickes Bündel von Belegzetteln.

Zu dem Bündel einige Zahlenangaben, die auch aus dem fertigen Wörterbuchartikel gewonnen werden können. So ist aus dem Formenteil ersichtlich, daß das Wort “Horn” in unserem Erfassungsbereich über einhundertmal schriftlich überliefert ist. Allerdings ergibt sich nur eine Belegzahl von 76, weil wir ein und dasselbe Wort aus Handschriften, die in einem besonders engen abschriftlichen Verhältnis stehen, nur als einen Beleg zählen. Denn die eigentliche Leistung der Wortfindung hat hier nur einmal stattgefunden. Der Bedeutungsteil des Artikels – auch bei den meisten anderen Artikeln wegen seiner Stellenzitate der umfangreichste Teil – enthält diese 76 Belege. Es sind 31 Glossenbelege, d.h. überwiegend deutsche Einzelwörter, die als Erklärungen zu lateinischen Wörtern eines Textes oder eines Wörterverzeichnisses stehen, und 45 Belege aus Texten, z.B. Dichtungen und Übersetzungen.

Nun zum eigentlichen ersten Arbeitsgang für die Erstellung des Wörterbuchartikels: Unter Berücksichtigung des unmittelbaren lateinischen Bezugswortes eines althochdeutschen Wortes bzw. des althochdeutschen oder lateinischen Kontextes muß die grammatische Form und die Bedeutung der auf den Belegzetteln stehenden Wörter bestimmt werden. Dazu benötigen wir die althochdeutschen bzw. lateinischen Kontexte sowie Informationen über den Inhalt und die Art und Weise der Glossare und – ebenfalls wichtig für den Formenteil – Angaben über Alter und Herkunft der Handschriften. In der Folge müssen zahlreiche Editionen von ehemals in den Klosterbibliotheken vorhanden gewesenen Werken und Textzeugnissen über unseren Schreibtisch wandern. Für den Artikel “horn” waren das bezüglich der Glossenbelege die von Elias von Steinmeyer und Eduard Sievers besorgte Ausgabe der althochdeutschen Glossen. Von den glossierten antiken Autoren folgten Vergil, Prudentius und Papst Gregor der Große, des weiteren die zum größten Teil auf Hieronymus zurückgehende Vulgata sowie der mittellateinische angelsächsische Autor Aldhelm mit seinen Rätselgedichten. Für die Textbelege schlossen sich an: die von Steinmeyer besorgte Edition der Kleinen Althochdeutschen Denkmäler, die Evangelienharmonie des Tatian mit ihrer althochdeutschen Interlinearübersetzung, die Evangeliendichtung in fünf Büchern von dem Klosterschullehrer Otfrid von Weißenburg sowie verschiedene Werke seines etwa hundertfünfzig Jahre jüngeren Sanktgallensischen Amtskollegen Notker des Deutschen: und zwar die mit Übersetzungen verbundenen Kommentare zu den Psalmen, zu Martianus Capellas Hochzeit des Merkur mit der Philologia und zur Trostschrift des Boethius. Ich könnte noch fortfahren, möchte aber die Aufzählung mit der Bemerkung abbrechen, daß wir des weiteren auch dazugehörige Spezialkommentare sowie – in schwierigeren Fällen – den Fundus unserer Grammatiken, Wörterbücher und weiterer Spezialliteratur grammatischer, wortgeschichtlicher und kultur- und literaturgeschichtlicher Art konsultieren müssen.

Das analysierte Belegmaterial einschließlich des ausgehobenen Kontextes muß nun mit den dem Wörterbuchreglement entsprechenden Siglen und Abkürzungen versehen werden. Dabei müssen alle alten Wortzeugen, d.h. die aus dem 8.–9./10. Jahrhundert, durch spezielle Siglen bzw. Handschriften- und Jahrhundertangabe eindeutig bezeichnet werden. Auch bestimmte Handschriftenfamilien oder auffällige Handschriftenbefunde müssen so hervorgehoben werden. Die Erklärungen dazu finden sich in den Vorworten und Abkürzungsverzeichnissen des Althochdeutschen Wörterbuches.

Jetzt kann der Formenteil zusammengesetzt werden. In diesem Artikel bildet die Abfolge der Kasus das Grundgerüst, während ansonsten, soweit vorhanden, die Lautverschiebung und die Veränderungen im Stammvokal den Vorrang haben, die die mundartlichen Eigenheiten und zeitlichen Entwicklungen dokumentieren. Es zeigt sich, daß unser Wort “Horn” in allen heute noch existierenden 4 Fällen des Singulars und Plurals sowie zusätzlich in dem damals noch hin und wieder erscheinenden 5. Fall, dem Instrumental, vorkommt. Die Endungen weisen das Wort bereits für die althochdeutsche Zeit als ein Neutrum aus. Es gibt wenige auffällige, vom regulären Schema abweichende Formen: zum einen einige spätalthochdeutsche Belege mit Sproßvokal e und i, die im zweiten Absatz des Formenteils zu finden sind, zum anderen eine Verschreibung, die an das Ende des Formenteils gestellt wurde. Hier ist offenbar der Sproßvokal i an den falschen Platz geraten. Ferner haben wir einmal anstelle des normalen e für den Dativ Singular ein geschwänztes e als Ausdruck für eine offene Aussprache dieses Endungslautes (Zeile 10 des Formenteils). Gleich darauf gibt es die von einem Handschriftenschreiber selbst vorgenommene Korrektur einer Verschreibung, wobei das fehlerhafte Element durch einen untergeschriebenen Punkt getilgt und darüber der richtige Buchstabe geschrieben worden ist.

Nun zum Bedeutungsteil. Aus der mehr oder weniger zufälligen Überlieferung althochdeutscher Zeugnisse ließen sich folgende Bedeutungen und Gebrauchsweisen ermitteln. Nach der Reihenfolge ihrer Häufigkeit seien sie angeführt: Horn als Blasinstrument, und zwar weniger als Instrument für die musikalische Erbauung als vielmehr als Signalinstrument im Frieden oder im Krieg oder zum Jüngsten Gericht, das Horn vom Kopf eines Tieres, Horn in der übertragenen Bedeutung als Macht, Kraft, Stärke, Horn als Gefäß, wohlgemerkt, nicht als Trinkhorn, Horn als Vorgebirge, Landspitze, Horn für die Enden der Kreuzesbalken und mit jeweils einem Beleg auch für die Enden der Mondsichel sowie für Spitze. Außerdem erscheint das Wort in zwei alphabetisch geordneten lateinisch-deutschen Vokabelverzeichnissen. Es steht jeweils zu dem gleichfalls bedeutungsreichen lateinischen cornu, d.i. Horn. Da sich hier eine spezielle Bedeutung nicht angeben läßt, sprechen wir von Glossenwörtern.

Wie sollen nun diese überlieferten Bedeutungen und Gebrauchsweisen am besten dem Benutzer präsentiert werden? Verschiedene Grundschemata für Sachwortartikel lassen sich im Althochdeutschen Wörterbuch finden. Drei seien aufgeführt.

Z.B. erstens das Schema “eigentlich – (bildlich) – übertragen” wie bei den Artikeln “fuoz” oder “eckol” ‘Stahl’.

Für Fälle, bei denen die einzelnen Wortbedeutungen und Gebrauchsweisen weiter von einander abweichen, haben wir das Schema der reihenden Untereinandersetzung. Dabei bietet sich für einen auch als Herstellungsmaterial dienenden Gegenstand folgendes zweites Gliederungskonzept an wie beim Artikel “fedara”:
1. Der Gegenstand: Vogelfeder.
2. Aus dem Gegenstand Verfertigtes: Schreibfeder.
3. Bedeutungsübertragung auf andere Sachen: Flosse eines Fisches.

Lassen sich jedoch solche oder andere Bedeutungsbeziehungen nicht erkennen und strukturieren, können die Bedeutungen und Gebrauchsweisen nur mehr oder weniger unvermittelt untereinander gesetzt werden, wie drittens der Artikel “henga” zeigt:
1. Henkel, Griff.
2. Türangel.
3. Riegel.

Wenn jetzt der Verdacht von Schematismus aufgekommen sein sollte, so möchte ich dagegen einwenden, daß das Belegmaterial selten ein Grundmuster völlig ausfüllt bzw. in Gänze einem der Grundmuster entspricht. Am häufigsten sind Kombinationen aus den Grundschemata zu finden, die, auch mit Rücksicht auf die Belegmenge einzelner Bedeutungen, dem entsprechenden Wort auf den Leib geschneidert worden sind. So etwa bei den Artikeln “faz” und “arm”, die wegen gewisser Ähnlichkeiten in der Problematik zur Orientierung für den Artikel “horn” dienten. Ebenso wurden Hornartikel anderer Wörterbücher studiert. Kurzum, die Entwicklung der Artikelgliederung, auch auf Grundlage des Vergleichens von anderen Artikeln mit dem eigenen Materialbefund, ist der Arbeitsgang, der im besonderen Maße die Kreativität der Wörterbuchmitarbeiter erfordert.

Art und Breite der gefundenen Wortbedeutungen und Gebrauchsweisen für das Wort “Horn” legten gleichfalls für diesen Artikel eine Kombination von Artikelschemata nahe. Als sinnvoll erschien der Beginn mit Horn in seiner eigentlichen Bedeutung, d.h. dem Horn bei Tieren, kurz nur mit “Horn” bezeichnet (1), zur besseren Veranschaulichung in 1a) und 1b) gegliedert, mit Bezug auf ein Tier und ohne unmittelbaren Bezug auf ein Tier. Zum Abschnitt 1c später. Jetzt hätte sich mit Blick auf das Blasinstrument und das Gefäß angeboten, fortzufahren mit der Rubrik “aus Horn Verfertigtes”. Da wir aber auch aus Metall gefertigte Blashörner unter den Belegen haben und aufgrund des lateinischen Lemmas “tuba” nicht einmal sicher ist, ob das mit Horn bezeichnete Instrument in frühmittelalterlicher Zeit stets von gekrümmter Gestalt war, verbot sich dieses. Denn die alleinige Bezeichnung “Horn” ist unter diesen Umständen für uns heutige irreführend und bedarf vielmehr der ergänzenden Bedeutungsangabe “Trompete”. So blieb nur das Schema der reihenden Untereinandersetzung verschiedener Bedeutungsabschnitte. Gedanklich lassen sich jetzt freilich die Abschnitte 2 und 3 überschreiben mit “aus Horn Gefertigtes und davon Abgeleitetes”. Um nun in diesem Gliederungsschema zu bleiben, wurde des weiteren keine eigene Rubrik “übertragen auf andere Gegenstände” eröffnet, die man vielleicht unter den Nenner “Äußerstes Ende, Spitze” hätte stellen können, sondern diese Übertragungen wurden jetzt lediglich als Nummern 4–7 angefügt.

Es bleibt noch der Abschnitt 1c, Horn in der Bedeutung “Kraft, Macht”. Man hätte diesen Abschnitt jetzt als Punkt 8 anschließen können, auch nach dem Usus, die übertragenen Bedeutungen hinter. Allerdings geht die Bedeutung “Kraft, Macht”, wie Lexika belehren, ihrem Ursprung nach vom Tierhorn aus. Die Kraft der Widder, Böcke oder Stiere hätte sich nach den Anschauungen früher Völker in den Hörnern manifestiert, auch wären Hörnerkronen im Alten Orient Kennzeichen von Göttern gewesen. Es empfahl sich also, diesen Bedeutungskomplex als Punkt c ans Ende von Abschnitt 1 zu rücken.

Zum Schluß wurde mit Hilfe einschlägiger Nachschlagewerke der etymologische Kopf niedergeschrieben sowie die Fußleiste mit den zum Wort “Horn” gehörigen Komposita und Ableitungen erstellt.

Meine Damen und Herren! Nach meiner eingangs an Sie gerichteten Frage nach Ihren Gedanken zum Wort “Horn”, sei nun abschließend das achtbändige Dudenwörterbuch befragt. Dort ist dieses Wort nur noch in drei Bedeutungsgruppen zu finden: Die zweite, Horn als Substanz der Hufe und Hörner bei Tieren, läßt sich in althochdeutscher Zeit noch nicht nachweisen, wobei freilich der letzte Beleg in Abschnitt 1a unseres Wörterbuchartikels in diese Richtung tendieren könnte. Er stammt aus einer 6 Meter langen Pergamentrolle überwiegend heilkundlichen Inhalts. Die Bedeutungen 1 und 3ab im Dudenwörterbuch weisen auf das Tierhorn bzw. das Blasinstrument und sind damit die einzigen, die vom Frühmittelalter bis heute fortleben. Zu den Gründen dafür sowie zur Bedeutungserweiterung 3c, akustisches Signalgerät an Kraftfahrzeugen, möchte ich jetzt nichts weiter sagen, sondern vielmehr für Ihre Aufmerksamkeit danken.

 

 

 

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