Universität Leipzig
Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenshaften
Käthe-Kollwitz-Str. 82
04109 Leipzig
Tel.: +49 341 97256-20
riha@medizin.uni-leipzig.de
Vom 29. September bis zum 1. Oktober 2010 fand entsprechend unter dem Titel „Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert“ eine internationale Tagung mit Gästen aus Deutschland und Russland, aber auch aus der Ukraine, Estland, Österreich, Kanada und Brasilien statt; die Organisation, die im Zentrum der Aktivitäten 2010 stand, geschah in Kooperation von Projekt und Karl-Sudhoff-Institut der Universität Leipzig. Das thematische Spektrum der Beiträge war absichtlich weiter gefasst, als es der Projekttitel vorgab, so dass neben Medizin-, Chemie- und Pharmazie- auch Zoologie-, Botanik- und Psychologiegeschichte mit je einer eigenen Sektion vertreten waren.
Eingeleitet wurde das Symposium am 29. September mit Grußworten des Rektors der Universität Leipzig, des Prodekans der Medizinischen Fakultät und des Präsidenten der SAW sowie mit einem öffentlichen Abendvortrag, in dem Dietrich von Engelhardt (Lübeck) besonders die deutsch-italienischen Wissenschaftsbeziehungen der Goethezeit mit den Verbindungen nach Russland verglich und eine breitere europäische Perspektive eröffnete.
Dem Anliegen des Vorhabens entsprechend, war der „rote Faden“ zwischen den Beiträgen die naturwissenschaftliche Fundierung der jeweiligen Disziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Durchsetzung dieses neuen Paradigmas wurde einerseits ideengeschichtlich dargestellt, hauptsächlich aber wurde auf persönliche Verbindungen, die institutionelle Etablierung und einschlägige Publikationstätigkeit abgehoben: Als Kristallisationspunkte der deutsch-russischen Wissenschaftskontakte (mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Herausbildung von „Schulen“) wurde zu Recht die „erste Garde“ der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts präsentiert, der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond, der Internist Karl Johann von Seidlitz, der Chemiker Friedrich Konrad Beilstein, der Zoologe Otto Bütschli sowie Wilhelm Ostwald als Begründer der Physikalischen Chemie. In der Hygiene spielte Max von Pettenkofer eine zentrale Rolle, und dieses Fach erwies sich während der Tagung für die unterschiedlichsten Ansätze als besonders ergiebig – kein Wunder, stellte es doch eine neue Leitwissenschaft dar, die auf gesicherter naturwissenschaftlicher Grundlage zum einen präventiv wirksam sein wollte und zum andern die Lösung nicht nur medizinischer, sondern auch sozialer und gesellschaftlicher Probleme versprach: So rückte das sozialmedizinische Engagement vieler Ärzte in den Blick, das – wie das Beispiel der Eugenik zeigt – aus heutiger Sicht auch durchaus dunkle Seiten aufweist.
Der überwiegend dokumentierenden, reiches Material erschließenden Herangehensweise trug eine eigene prosopographische Sektion noch einmal explizit Rechnung, denn im Akademienprogramm sowohl des deutschsprachigen Raums als auch in Russland (liefen und) laufen aufwendige biobibliographische Arbeiten zur Erfassung der Akteure im Wissenschaftsbetrieb: An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wurde der monumentale „Poggendorff“ als biobibliographisches Handbuch für den Bereich der exakten Naturwissenschaften erarbeitet, und in dieser Tradition ist das biobibliographische Lexikon zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen zu sehen. Präsentiert wurde auch ein ähnliches Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das in Kooperation mit der Universität Lviv schon erste Ergebnisse vorweisen kann, und im Spätsommer 2010 wurde der vierte Band des biographischen Lexikons der Professoren des Russischen Zarenreichs herausgebracht. Der diesbezügliche Austausch von Erfahrungen und Informationen über etwas abgelegenere Quellen sowie die Diskussion zweckmäßiger Herangehensweisen waren ein wichtiges und trotz heterogenen Erkenntnisinteresses auch erreichtes Ziel der Tagung. Die Ergebnisse dürften von allgemeinerem Interesse sein, so dass der Konferenzband sowohl die zahlreichen Detailbeobachtungen als auch das konzeptionelle bzw. methodische Vorgehen für ein interdisziplinäres Publikum aufbereiten wird und damit sowohl die Wissenschaftsgeschichte als auch die Sozialgeschichte im Auge hat.
Zum Zweck einer interdisziplinären Kontextualisierung mit Erweiterung der methodischen Annäherung und der Fragestellungen war ein Grundsatzreferat von Matthias Middell, dem Direktor des Leipziger Zentrums für Area Studies, ins Programm genommen worden, das die binationale Sichtweise komparatistisch um die französische Seite erweiterte, dadurch erneut eine europäische Perspektive ins Spiel brachte und den allgemeinen historischen Hintergrund mit seinen Unwägbarkeiten und wechselnden Konjunkturen bzw. Ressentiments bewusst machte. Wenn in den Referaten eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber Verallgemeinerungen auffiel, so liegt dies wohl daran, dass der erreichte Forschungsstand trotz der vielen punktuellen Erkenntnisse noch keine Beschreibung gesicherter Entwicklungslinien erlaubt. Die in den Diskussionen vorgebrachten Argumente scheinen jedenfalls zur Vorsicht gegenüber übereilten Schlüssen zu mahnen; zu groß sind offenbar die lokalen und fachbezogenen Unterschiede, die keineswegs harmonisierend übertüncht werden sollen.