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Oskar Reichmann: Sprache und Kulturwissen – ihre Darstellung im historischen Bedeutungswörterbuch

Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
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: Wissenschaftliche Koordination

Pieter Bruegel der Ältere: Der Turmbau zu Babel, 1563. Kunsthistorisches Museum Wien

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Große,

das Thema des Vortrags setzt voraus,
– daß Sprache und Kulturwissen zusammenhängen,
– daß dieser Zusammenhang insbesondere im Lexikon einer Sprache begründet liegt, und
– daß man beides im historischen Bedeutungswörterbuch behandeln kann.

Das Thema läßt offen,
– was Kulturwissen ist,
– wie der Zusammenhang von Sprache und Kulturwissen gedacht und
– wie er im Wörterbuch behandelt werden kann, und auch:
– wer als Träger von Kulturwissen in Betracht kommt.

Die Voraussetzungen, die die Themenformulierung macht, sind unmittelbar einsichtig und brauchen deshalb nicht weiter behandelt zu werden. Hinsichtlich der genannten Offenheiten des Themas aber ergeben sich mindestens zwei miteinander zusammenhängende Fragen; sie sollen hier nicht beantwortet, wohl aber kurz skizziert werden, schon damit sichergestellt ist, daß dasjenige, worüber ich spreche, auf dasjenige projiziert werden kann, was vermutlich für Sie alle – und für mich – ein Problem ist.

1. Wenn ich von Kulturwissen rede, stellt sich automatisch die Frage, ob dieses nicht einfach Sprachwissen ist, also z.B. an lexikalische Zeichen einer Einzelsprache oder -varietät gebundenes, nur in diesen Zeichen existentes (im übrigen selbstverständlich syntaktisch und textlich rangiertes) Wissen. Man sollte dieses Wissen dann aufgrund seines sprachzeicheninternen Status genauer als Bedeutungswissen bezeichnen; denn es sind ja nun mal Wörter (natürlich auch: Sätze, Texte usw.), die Bedeutung haben. Die heute übliche, aber nicht naturnotwendige Trennung der Sprachwissenschaften von anderen Kulturwissenschaften, etwa der Geschichtswissenschaft, würde bei dieser Auffassung relativiert, auch die Themenformulierung meines Vortrages ginge ins Leere. Oder es stellt sich die Frage, ob Kulturwissen ein außerhalb der Sprache existierendes, besser als begrifflich zu charakterisierendes Wissen ist, das man durch die Einzelsprache lediglich so oder so bezeichnet und das durch diesen Bezeichnungsvorgang vielleicht gewissen kulturspezifischen Brechungen unterworfen, nicht aber in seiner außereinzelsprachlichen Existenz angetastet wird. In diesem Fall wäre die historische Lexikographie, wie die Sprachwissenschaft überhaupt, Hilfsdisziplin der Geschichtswissenschaft. Es stellen sich weiterhin Fragen wie die, ob man in dem gerade unterstellten Sinne überhaupt darstellungsfunktional reden kann und nicht vielmehr zu einem ganz anderen, letztlich handlungstheoretisch orientierten Paradigma übergehen sollte. Ganz unabhängig davon ist wieder die Frage nach den Typen und der Organisation eines wie auch immer verstandenen Kulturwissens.

2. Auf die Frage nach dem Träger von Kulturwissen würde man unmittelbar antworten, das müsse doch wohl der jeweils zeitgenössische historische Sprecher, also etwa der Sprecher des Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutschen sein; und den guten Sinn dieser Antwort will ich nicht in Zweifel ziehen. Diese Frage soll dennoch in Erinnerung rufen, daß es – vielleicht grundsätzlich, vielleicht teilweise oder irgendwie – „der Herren eigner Geist” sein könnte, den man nur „Geist der Zeiten heißt” und als historische Wissen verkauft (Faust I, 570 f.). Das wäre dann ein Geist, der eher etwas über den Wissenschaftler als über seinen geschichtlichen Gegenstand aussagen würde.

Ich breche die einleitende Andeutung von Fragen, die hinter der Themenformulierung stehen, hiermit ab und fange gleichsam von der anderen Seite her an, nämlich der Darstellung einiger Bereiche der lexikographischen Praxis, bei der Fragestellungen der vorgetragenen Art aber eine Rolle spielen. Dieser Teil des Vortrages wird etwas ausführlicher gestaltet, weil ich erstens eine gewisse Materialgrundlage für meine weiteren, im abschließenden Teil des Vortrages angestellten Überlegungen brauche, und weil ich zweitens hoffe, daß die Darbietung interessanter Stoffe die Lexikographie als Praxis der Kulturvermittlung zu veranschaulichen und für sie leichter zu begeistern vermag als eine rein theoretische Diskussion. Über diese Brücke ist mein Vortrag natürlich auch als Festvortrag zur Ehrung von Herrn Große gedacht, dem ich hiermit herzlich gratuliere und für seine wissenschaftliche Leistung danke, darunter selbstverständlich insbesondere für seine Tätigkeit auf dem Felde der Lexikographie.

Ich argumentiere am Beispiel eines Artikels des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (= FWB; hrsg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann; Bd. 2 bearb. von Oskar Reichmann. Berlin / New York 1994), und zwar zum Adjektiv arm ›miser, pauper‹. Zur Orientierung habe ich in der Ihnen ausgehändigten Handreichung die Basisstruktur der Artikel des FWB dargestellt und außerdem ausschnittsweise die jeweiligen Füllungen der einzelnen Informationsposition angegeben.

Sie finden dort zunächst das Lemma arm, einige spartanisch gehaltene morphologische Angaben dazu, danach eine Darlegung der Gliederungsprobleme, die ein Lexikograph bei hochgradig polysemen Artikeln des Typs arm immer hat. All dies soll hier nicht weiter diskutiert werden.

Sie finden im weiteren dann die Erläuterung einer ersten, von mir an den Anfang des Bedeutungsfeldes gesetzten Bedeutung von arm; sie lautet:

„arm, bedürftig, besitzlos, ohne die zum Lebensunterhalt erforderlichen finanziellen oder sonstigen Mittel; sehr oft im Ggs. zu reich gebraucht. Über die Ursache des Armseins wird in den Texten teils keine Aussage gemacht, teils (vor allem in den Sprichwörtern) wird ein Mitverschulden (darunter Untätigkeit im weitesten Sinne) vorausgesetzt oder ausgesprochen, teils wird das Armsein als durch die soziale Ordnung und ihre mißbräuchliche Handhabung gegeben hingestellt. Bei Voraussetzung der Angabe ersterer Ursache kann auf die Eigenschaft [also arm zu sein, O. R.] sowie auf die Träger der Eigenschaft mit negativen Aussagen Bezug genommen werden; bei Annahme der zweiten Ursache begegnen oft positive Aussagen.”

Von Bedeutungserläuterungen dieser Art gibt es im Artikel nun genau 16; ich greife (mit einigen internen Kürzungen) noch zwei weitere heraus: Unter 3 steht:

›aus eigener Entscheidung in Armut lebend, freiwillig arm, innerlich von allem Besitz und allem Vertrauen auf die eigenen Kräfte gelöst, sich selber verlierend, um der höchsten Vereinigung mit Gott fähig zu werden‹.

Oder bei 4:

„dient der Kennzeichnung von Personen, die in irgend einer Form der Abhängigkeit, Unfreiheit oder Leibeigenschaft stehen; das sind meistenteils die unteren Sozialschichten auf dem Lande, aber auch in den Städten und in den frühen Industriebetrieben; daneben können auch Personen höherer sozialer Schichten, Angehörige von Gruppen (Klostergemeinschaften), gemeine Soldaten, jeweils soweit sie unter einer Ordnung stehen oder sich dorthin gestellt sehen, sowie die Juden als von der jeweiligen obrigkeitlichen Gesetzgebung Abhängige als arm bezeichnet werden. Auch auf Tiere wird das Wort angewendet; nhd.-synonymisch kann man es wiedergeben mit: ›abhängig, unfrei, untertan; leibeigen; zins-, abgabepflichtig; den unteren Sozialschichten zugehörig; in ärmlichen Verhältnissen lebend, verelendet; bäuerlich, einfach, gering, klein‹; von Tieren: ›gequält‹.”

Ich muß aus Zeitgründen auf weitere Wiedergaben verzichten; ich füge lediglich hinzu, daß in dem Bedeutungsblock 4–8 die soziale Kennzeichnung der Armut im Mittelpunkt steht; unter 10–14 folgt Armut im Sinne von natürlich gegebener Schwachheit, Gebrechlichkeit, von rechtlicher Ausgesetztheit, von religiöser Erlösungsbedürftigkeit usw., 15 und 16 beziehen sich auf die Minderwertigkeit von Sachen, z.B. die Geringhaltigkeit von Erzen.

Ich habe soeben folgendes getan: ich habe gesagt bzw. unterstellt: Das lexikalische Zeichen arm ist polysem, hat mehrere Bedeutungen; den Polysemiegrad habe ich mit der Zahl 16 angeben zu können gemeint. Möglicherweise haben Sie dies so verstanden, als hätte ich gesagt, das Adjektiv arm hat 16 Bedeutungen. Auf jeden Fall aber hat die Art meines Sprechens, meiner Fachsyntax suggeriert, daß es die Sprecher des Frnhd. selbst sind (natürlich als Gesamtheit), die das Adjektiv arm in vielfach verschiedener Weise gebraucht und verstanden haben. Damit wurde diesen Sprechern zugleich so etwas wie ein semantisches Strukturwissen zugeschrieben; da dies an eine einzelne lexikalische Einheit gebunden ist, müßte man genauer sagen: Die zeitgenössischen Sprecher haben ein einzelwortbezogenes, linguistisch als semasiologisch zu bezeichnendes, irgendwie strukturiertes, Wissen, und zwar über Bedeutungen. Dieses Wissen ist in der Strukturskizze Ihrer Handreichung mit dem linken, senkrechten Pfeil angegeben.

Die Stoßrichtung dieser Aussagen lautet: Die Fachsprache von Textsorten der hier gerade vollzogenen Art suggeriert, daß es die Sprecher einer historischen Zeit sind, die über die Inhalte des vorgetragenen Wissenstyps verfügen, die Inhalte dieses Wissenstyps sind dieser Aussage nach nicht die Inhalte von Sprechern unserer Zeit.

Auf die Bedeutungserläuterung folgt eine Position, die im Wörterbuch mit der Sigle bdv. (= bedeutungsverwandt) eingeleitet wird und die, wieder an Beispielen, folgendes Aussehen hat:

Frnhd. arm in der Bed. 1 ist bedeutungsverwandt mit frnhd. bedürftig, dürftig, notdürftig, nötig, unvermögen. Oder: arm in Bed. 3 ist bedeutungsverwandt mit den frnhd. Ausdrücken blos, ledig, abgescheiden; armgeistig. In Bed. 4 ist arm bedeutungsverwandt mit frnhd. gering, gemein, schlecht, einfältig, kleinfüge; untertan, zugehörig, eigen, eigentümlich; elend, unachtbar. Und so geht es weiter; im Prinzip bis zu Bedeutung 16. Eine Liste der Bedeutungsverwandtschaften finden Sie wieder in Ihrer Handreichung.

Angaben der vorgetragenen Art beziehen sich auf die Bezeichnungsvernetzung einer Sprache und heißen deshalb Angaben zur onomasiologischen Vernetzung. Sie sind für mein Wörterbuch nahezu ebenso konstitutiv wie diejenigen zur Semasiologie einer lexikalischen Einheit. Zusammen mit der semasiologischen Organisation des Lexikons ergeben sie eine Beschreibung der beiden wichtigsten assoziativen Strukturdimensionen des Wortschatzes; und zwar wie folgt:

(a) Ein Wort hat in aller Regel mehrere Bedeutungen; eine einzige Einheit dient also dem Bezug auf mehrere Gegenstände.

(b) Man kann einen Begriff auf unterschiedliche Weise ausdrücken, die Eigenschaft besitzlos zu sein, also z.B. außer durch arm auch durch bedürftig oder nötig, und die Eigenschaft, in einem sozialen Abhängigkeitsverhältnis zu stehen, unter anderem durch die Adjektive gering, gemein, untertan.

Ein Wörterbuch, das Semasiologie und Onomasiologie auf die vorgeführte Weise verbindet, informiert also erstens über zeitgenössisches Wissen der Bedeutungen von Einzelwörtern und ihrer Zusammenhänge, und es informiert zum zweiten über zeitgenössisches Bezeichnungswissen, das aber natürlich zum semantischen Strukturwissen in einer Solidaritätsrelation steht. Wie immer man aus der Problematik, daß man einerseits die semantische Potenz von Wörtern als Bedeutung bezeichnet, daß man aber andererseits sagen kann, ‘Begriffe’ seien immer auf verschiedene Weise ausdrückbar, und wie immer man die Bedeutungs- und Bezeichnungs-Leistung des Lexikons mit zeitgenössischem Kulturwissen verbinden kann und dieses in Bezug zum heutigen Wissen über eine historische Zeit setzt, eines ist schon jetzt klar: Wenn ich mich im Wörterbuch über so etwas wie Armut (was das auch sein mag: ein Konglomerat von Wortbedeutungen, ein Begriff, ein Stück sozialer Realität) informieren will, dann ist mir mit einem ausschließlich semasiologischen Wörterbuch nur partiell bis überhaupt nicht gedient. Auf Armut muß man ja nicht unbedingt mit dem Wort arm Bezug genommen, sondern kann sie mit ganz anderen Ausdrücken angesprochen haben. Oder – und jetzt wechsle ich mal das Beispiel –: Wenn ich mich etwa in einem Lutherwörterbuch über die christliche Freiheit bei Luther orientieren will, dann darf ich nicht nur unter freiheit, sondern muß unter einer Vielzahl anderer Ausdrücke nachschlagen; diese finde ich nur, wenn ich – z.B. unter freiheit – einen Einstieg gefunden habe und von da aus in die onomasiologische Vernetzung des Wortes verwiesen werde, also z.B. zu glaube (auf den genauen Synonymiebegriff kommt es in diesem Zusammenhang nicht an). Wörterbücher erfüllen ihre Aufgabe, Kulturwissen erschließbar zu machen, also in dem Maße, in dem sie der in der Regel semasiologischen Basis ihrer Darstellung eine onomasiologische Komponente einbauen. – Ich habe den gemeinten Vernetzungstyp am Beispiel des Wortes freiheit im Freiheitstraktat Luthers noch einmal herausgegriffen (nach A. Lobenstein-Reichmann, Freiheit bei Martin Luther. […]. Berlin New / York 1998) und in der Handreichung zusammengestellt.

Sie finden dort in der linken Spalte von oben nach unten die semasiologische Darstellung von freiheit, in der waagerechten die Ausdrücke, die mit den einzelnen Bedeutungen von freiheit inhaltlich verwandt sind. Geht man diesen Ausdrücken an der alphabetisch passenden Stelle eines Luther-Wörterbuches nach, so findet man dort wiederum semasiologische Felder, zu diesen wiederum onomasiologische usw. Die Angaben zur onomasiologischen Vernetzung lösen mich also vom Einzelwort und ermöglichen den Zugriff in einem beliebig eng oder weit faßbaren Bezeichnungs-, damit auch wieder Bedeutungsrahmen. freiheit wird auf diese Weise in ihrem gesamten theologischen Argumentationssystem greifbar.

Ich fahre nun mit der Besprechung von Informationspositionen des FWB fort, die für die Vermittlung von Kulturwissen relevant sind, und komme zu den Syntagmen. Sie haben folgendes Aussehen: zu arm 1 (also i.S.v. ‘bedürftig’) lauten sie, daß man den armen (menschen) drängen, erhalten, ernären, verschmähen und hunger leiden lassen kann, daß man ihn aber auch mit brot erfüllen, mit etw. begaben kann. Arme leute begeren almosen, strecken sich nach der decke, zalen nicht gern, sie ernären den reichen, bleiben arm, haben immer unrecht; man kann den armen helfen und ihnen etw. abgeilen oder abbrechen (usw.).

Die Armen i.S.v. arm 4 kann man bedrohen, berauben, brennen, plündern, aber auch schauern und schirmen, zu bürgern empfahen und aus dem miste heben; man weiß, daß sie auf dem lande sitzen, jm. zugehören, das beste tun, den herren erhalten, in gehorsam leben, fleissig, gut und geständig sind, aber auch, daß sie unrecht tun, etw. verbrechen, vor gericht kommen, dem richter verfallen (usw.), hier klingt deutlich das revolutionäre Potential an, das die Textautoren in den Armen sehen.

Die Syntagmen wurden bewußt nicht in einem syntaxtechnischen Sinne, z.B. in der Weise dargestellt und vorgeführt, daß das Adj. arm z.B. attributivisch, prädikativ, adverbial gebraucht werden könne oder daß ein bestimmtes Verb mit einer bestimmten Anzahl und Art von Ergänzungen verbunden sei. Vielmehr werden die Syntagmen aus ihrem originalen Aussagezusammenhang herausgeschnitten und erscheinen damit z.B. als Prädikationen, die man (in unserem Fall: über den armen, generalisiert: über einen bestimmten Bezugsgegenstand) gemacht hat, oder sie erscheinen als Nennung all derjenigen Bezugsgegenstände, die man z.B. mittels eines Adjektivs charakterisiert. Stellt man sie in der vorgetragenen Weise zusammen, dann bieten sie die Gesamtheit all derjenigen Prädikationen, Charakterisierungen (usw.), die man in einer bestimmten Zeit nach Ausweis der Quellen über einen bestimmten Bezugsgegenstand gemacht hat.

Das FWB enthält außer den genannten Positionen noch die folgenden: Phrasemangaben, die Angabe nicht lexikalisierter Wortbildungen, die Angabe von Gegensatzwörtern, Belegangaben und Symptomwertangaben; zusammengefaßt: In die semasiologische Basis des Wörterbuches werden pro Bedeutung Angaben zu deren jeweiliger paradigmatischer und syntagmatischer, darunter zur wortbildungsmorphologischen, Vernetzung eingegliedert, und es werden Symptomwerte genannt. Ich muß aus Zeitgründen darauf verzichten, dies jeweils an Beispielen zu veranschaulichen; lediglich auf die Symptomwerte gehe ich noch kurz ein, da sie einen besonderen, nämlich soziopragmatischen Status haben.

Symptomwertangaben finden Sie im Artikel arm unter den Positionen 3 und 14; sie lauten (für 3): „Vorw. mystische und didaktische Texte des 14. und 15. Jhs.”; für 14: „Vorw. religiöse und didaktische Texte.” Unter Berücksichtigung weiterer, hier nicht vorführbarer Beispiele verstehe ich unter solchen Angaben diejenigen Informationen, die den Raum (z.B. das Omd.), die Zeit (z.B. das ältere Frnhd.) oder die Textsorten umreißen, in denen ein Wort als Ganzes oder pro angesetzte Einzelbedeutung gegolten hat. Ich komme etwas später darauf zurück, nachdem ich eine Zwischensumme gezogen habe. Diese lautet:

Historische Bedeutungswörterbücher sind in dem Maße für die Erschließung jeweils zeitgenössischen Kulturwissens relevant,
– in dem sie differenzierte Erläuterungen aller Einzelbedeutungen eines Lemmazeichens liefern,
– in dem sie die angesetzten Einzelbedeutungen in ihrem semasiologischen Feldzusammenhang darstellen,
– in dem sie jede Einzelbedeutung in ein onomasiologisches Netz stellen,
– in dem sie die zugehörigen Syntagmen aufführen,
– in dem sie (das habe ich nicht behandelt, füge es jetzt aber hinzu) Gegensatzwörter nennen,
– in dem sie Symptomwerte angeben und
– in dem sie einen ausführlichen Belegteil bringen.

Im einzelnen sind diese Angabetypen im Hinblick auf das Vortragsthema dann wie folgt zu lesen:

Zur Erläuterung der Einzelbedeutungen ist unter quantitativem Aspekt zu sagen, daß bei einer Anzahl von rund 150.000 Lemmazeichen, die das FWB ansetzt, und der Annahme der Polysemie als Regelfall leicht mehrere Hunderttausend solcher Erläuterungen zustandekommen. Da Einzelbedeutungen nun – unter qualitativem Aspekt – die Art und Weise sind, wie Sprachbenutzer auf eine irgendwie verstandene Realität bezugnehmen, heißt dies, daß sie in ihrer Formulierung durch den Lexikographen eine Darstellung des historischen Bezugsgegenstandes bzw. der Bezugsqualität selber enthalten. Der Terminus Bezugsgegenstand spiegelt den Status dieser Entität dadurch, daß mit dem Grundwort (also mit Gegenstand) eine Realität suggeriert und daß im Bestimmungswort (also in: Bezug) zum Ausdruck gebracht wird, daß es diese Realität kommunikativ relevant und damit überhaupt handlungsrelevant, ausschließlich in der sprachlichen Bezugnahme gibt. Bezugsgegenstand ist also nicht so zu verstehen, daß da irgendwo in einer einzelsprachunabhängigen Welt ein Gegenstand ist (sagen wir mal die Arbeit, die Armut, die Freiheit oder auch die Ameise, der Ametist oder aus einem anderen Alphabetbereich: das Lab, die Lauge, das Leben), auf den man auch noch Bezug nehmen kann, wenn man gerade redet, sondern Bezugsgegenstand besagt, daß dieser Gegenstand immer durch die Art des Bezugs bestimmt und dadurch überhaupt als derjenige verhanden ist, über den man kommuniziert. Ich zitiere zur Veranschaulichung des Gesagten noch die Erläuterung von leben (Subst.):

1. ›Existenzform sich selbst bewegender und erhaltender Organismen (insbesondere des Menschen als eines Individuums und als Teils der Gesellschaft), die durch Zeitlichkeit und Körperlichkeit begrenzt und in einem theologischen Verständnis durch Gottesferne gekennzeichnet ist (im Ggs. zum körperlichen Tod und dem dem körperlichen Dasein diametral gegenüberstehenden, diesem aber auch vorausgehenden ewigen Leben in Gott)‹; als Metonymie: ›Gesamtheit des Lebenden, Existierenden, Vegetation‹; sehr häufig ütr. auf den Rechtsbereich, dann: ›Leben als verwirkbares sowie als zu schützendes Rechtsgut‹; dazu wiederum metonymisch: ›Straftat, die die Todesstrafe zur Folge hat‹.

Man beachte: Es geht um die Existenzform von Organismen; dazu zählt auch der Mensch, und zwar als Individuum und als Teil der Gesellschaft; die Organismen sind durch Zeitlichkeit und Körperlichkeit begrenzt usw. Die Gesamtheit derartiger Prädikationen sagt, wie leben in frnhd. Zeit aufgefaßt werden konnte (laut Bed. 1 von leben).

Verbindet man den quantitativen mit dem qualitativen Aspekt, dann leistet das historische Bedeutungswörterbuch mit den Erläuterungen der Einzelbedeutungen nichts weniger als eine Auflistung und Beschreibung aller in einer historischen Zeit kommunikativ bestimmter und kommunikativ existenter Bezugsgegenstände. Sofern alles Relevante eine lexikalische Fassung hat, ist das historische Bedeutungswörterbuch damit das Register dieser Fassung gleichzeitig auch ein Strukturierungsversuch.

Bezugsgegenstände, wie sie hier angesetzt wurden, sind praktisch niemals isolierte und sie sind niemals (im terminologischen Sinne der Aufklärung) deutlich abgegrenzte Größen. Isoliert sind sie deshalb nicht, weil sie bei vorausgesetzter Polysemie des Sprachzeichens in semasiologischen und immer in onomasiologischen Zusammenhängen stehen, und zwar nicht im Sinne von Wohlbestimmtheit der jeweiligen Einheit, sondern eher im Sinne ihrer trotz aller Überlappungen und Übergänge, trotz aller Kontinuitäten möglichen Unterscheidung. Bezogen auf arm: Es ist nach meinem Urteil nicht adäquat zu sagen: Es gibt (1) die Armut als außersoziologisch existente Mittellosigkeit und (2) als geistliche Armut, (4) als soziale Abhängigkeit, (12) als körperliche Gebrechlichkeit oder (14) als religiöse Erklärungsbedürftigkeit, und all dies hat nichts miteinander zu tun. Es ist vielmehr so, daß z.B. geistliche Armut in Metaphern und Bildern in Analogie zu finanzieller Mittellosigkeit und zu sozialer Abhängigkeit steht oder daß die Vorkommen von arm nur in einer Reihe von Quellentexten die Abgrenzung von Mittellosigkeit und sozialer Abhängigkeit zulassen. Unterscheidbar in dem Sinne von ‘etw. kann von etw. anderem unterschieden werden und wird dadurch erst zu einem Etwas’ sind dennoch möglich.

Bezugsgegenstände der hier angesetzten Art sind aber auch deshalb nicht „deutlich” (im fachterminologischen Sinne) voneinander abgrenzbar, weil sie ja – wie vorhin gesagt wurde – nur durch die Art und Weise des Zugriffs als solche existieren. Solche Zugriffe, Bezugnahmen sind nun aber immer Bestandteile sprachkultureller Handlungen von Sprechern; und Sprecher sind immer Angehörige einer bestimmten Raumgruppe (etwa der Ostmitteldeutsch Sprechenden), einer bestimmten Zeitstufe (etwa der Zeit der Reformation), einer bestimmten Sozialschicht und Gruppe, und sie agieren in der Regel in sozial üblichen Zusammenhängen. An dieser Stelle kommen die Symptomwerte wieder ins Spiel. Ihre Bestimmung durch den Lexikographen gibt an, wer es denn nun, in welcher Zeit, in welchem Raum, in welchem in der Textsorte greifbaren sozialsituativen Zusammenhang gewesen ist, der Armut im Sinne von finanzieller Mittellosigkeit oder geistlicher Armut oder religiöser Erlösungsbedürftigkeit konzipiert und in diesem Sinne über Armut kommuniziert hat. Die Differenzen im Zugriffssystem auf Realität und damit die Unterschiede im kulturellen Wissen einer Gesellschaft werden in den Symptomwertangaben greifbar.

Das Vorgetragene zusammenfassend behaupte ich: Wörterbücher der vorgeführten Art stellen mit ihren Bedeutungserläuterungen die Gesamtheit aller sprachlichen Zugriffe auf Realität und damit alle für eine Sprachgesellschaft relevanten Bezugsgegenstände erstens isoliert in Einzelerläuterungen und zweitens in ihren jeweiligen semasiologischen und onomasiologischen Vernetzungen wie in ihren syntagmatischen und textlichen Zusammenhängen dar, und sie nennen drittens die Träger dieser Zugriffe. Das gesamte sprachliche Handlungssystem als Zugriffsmodus auf Realität und als Setzung von Realitätsbildern, dies alles in seiner soziologischen Gliederung, ist Gegenstand des historischen Bedeutungswörterbuches.

Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß Sie zu dem Inhalt meines Vortrages eine Reihe von sehr grundsätzlichen Fragen haben und diese nachher in der Diskussion auch stellen werden. Zu diesen Fragen dürften die folgenden gehören:
(1) Bildet ein Wörterbuchartikel wie derjenige zu arm irgendetwas ab oder ist er poetische Fiktion in fachwissenschaftlicher, Objektivität suggerierender Verbrämung?
(2) Wo bleiben eigentlich die Gegenstände der Sachkultur in meinem Konzept?
(3) Wo bleibt eigentlich die Größe, die sowohl in sprachhistorischen wie (noch offensichtlicher) in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten gleichsam in jeder Zeile begegnet und die man gerne als Begriff bezeichnet?

Die erste Frage (also diejenige nach der Abbildlichkeit oder Fiktion) ist natürlich die anfangs des Vortrags gestellte Frage nach dem Geist der Zeiten (ob er abgebildet wird) oder der Herren eignem Geist (der Fiktion). Sie drängt sich gleich aufgrund eines ganzen Bündels von Einzelfragen auf, etwa den folgenden: Warum wurde das Bedeutungsfeld von arm gerade in 16 statt in 14 oder 18 oder gar in 5 oder 23 Einzelbedeutungen gegliedert? Wenn das Wörterbuch nicht über den Raum von 12 geplanten Bänden, sondern nur über drei Bände verfügen würde, wären die Einzelbedeutungen, damit auch die Bezugsgegenstände, weitestgehend anders geschnitten, auf jeden Fall abstrakter gefaßt worden. Es ist ja offensichtlich, daß ich Armut als Mittellosigkeit auch mit Armut als sozialer Abhängigkeit hätte verbinden können oder daß ich innerhalb des letzteren Bedeutungsansatzes zwischen grundherrschaftlicher Abhängigkeit (z.B. der Bauern) und der Abhängigkeit des Mönches in Klostergemeinschaften und insbesondere der Gequältheit von Tieren hätte unterscheiden und damit die Anzahl der Bedeutungsansätze hätte erhöhen können. Die Aussage wäre denkbar, ich hätte als Mitteleuropäer des 20. Jhs. dessen anerzogene ideen- und sozialgeschichtliche Aufmerksamkeitsschwerpunkte gleichsam in den Wörterbuchartikel hineingetragen und dann logischerweise die Armut als wirtschaftliches Phänomen von der Armut als frömmigkeitsgeschichtlichem Phänomen und als sozialrechtlicher Gegebenheit getrennt. Im übrigen zeige der Artikel diese Gewichtungen rein äußerlich schon dadurch, daß zwischen den gerade genannten drei Ansätzen und den restlichen eine deutliche Schieflage bestehe, denn diese restlichen seien nun wirklich sehr kurz gekommen. Im übrigen sei das alles ganz normal in Darstellungen von Wörtern wie arm. Auch K. Wiedemann (um ein Beispiel zu nennen) habe bei der Geschichte des Wortes Arbeit eigentlich nur die religiöse und sozialwirtschaftliche Funktion der Arbeit im Kopf gehabt und z.B. die Bedeutungen ‘Geburtswehen’ oder ‘Passion’ oder ‘Gärung von Wein’ vergessen (Arbeit und Bürgertum. […]. Heidelberg 1979). Oder H. Schmidt habe Abenteuer (im Deutschen Wörterbuch, Neubearbeitung, s.v.) so dargestellt, als sei dies die Ausnahmehandlung der großen souveränen Persönlichkeit im Sinne des 19. Jhs. (ob Krieger oder Liebhaber, Adliger oder Bürger), die logischerweise immer wieder eine literarische Darstellung gefunden habe.

Fragen dieser Art werden in der Regel mit dem kritischen Unterton des metaphysischen Realisten gegen jede Relativierung eines objektivistischen Erkenntnisbegriffs vorgetragen. Ich versuche hier eine Antwort, die dieser Kritik erst einmal so begegnet, als sei sie von ihren Voraussetzungen her, im einzelnen ohnehin, berechtigt: Ich komme zu meiner Bedeutungsgliederung und damit zu meinem Rekonstruktionsversuch von Kulturwissen durch eine Kombination von mehreren linguistischen, von ihrem Status her sehr unterschiedlichen Verfahren. Eines darin werde ich kurz behandeln, ein weiteres nur andeuten.

Ich setze so viele Einzelbedeutungen an, wie ich für die in Betracht kommenden Bedeutungen aus dem Quellencorpus ein jeweils eigenes onomasiologisches Feld nachweisen kann. Bei diesem Prüfungsverfahren (es ist ein Verifikationsverfahren) können sich folgende Bilder ergeben:

(1) Bed. 1: a, b, c, d        
  Bed. 2:         e, f, g, h

Dieser Fall ist im Vergleich von arm 1 mit arm 3 gegeben: Keines der bedeutungsverwandten Wörter zu arm 1 findet sich im onomasiologischen Feld zu arm 3 wieder (vgl. die Abb.). Folglich muß die Trennung von arm 1 und arm 3 als begründet betrachtet werden; sie ist gleichsam mit dem Zeigefinger aus dem Quellencorpus heraus aufweisbar.

(2) Das genau entgegengesetzte Bild liegt dann vor, wenn sich das onomasiologische Feld zu einer Einzelbedeutung 1 von demjenigen zu unserer Einzelbedeutung 2 in keiner seiner Einheiten unterscheidet. Dieser Fall kommt im Artikel nicht vor, weil ich bei seinem Eintritt die Unterscheidung aufgegeben hätte.

(3) Fall 3 ist der Überlappungsfall:

    Bed. 1: a, b, d    
    Bed. 2:   b d, e, f

In diesem Fall versagt die Probe; es gibt keine Möglichkeit zu sagen: Bei einer bestimmten Quantität der Feldübereinstimmung, also z.B. bei 20, 40, 80%, liegt noch die gleiche oder es liegt eine andere Bedeutung vor; der Lexikograph ist auf seine kulturpädagogische Absicht zurückgeworfen, d.h. er wird bei 20% Übereinstimmung möglicherweise zugunsten von weitgehender Ähnlichkeit und bei 80% Übereinstimmung zugunsten von Unähnlichkeit entscheiden.

(4) Bei einer vierten Lagerung kann Verschiedenheit der Feldausdrücke vorliegen, die einzelnen Zeichen können aber synonym oder partiell synonym sein. Dies ist also der Fall unter arm 6 ›untreu‹, dessen bedeutungsverwandte Wörter böse und schnöde durchaus als partiell synonym mit elend, sündig unter arm 14 betrachtet werden können. Die Entscheidung, bis zu welchem Grad Synonymie vorliegt, hat wieder der Lexikograph zu treffen.

(5) Eine fünfte Lagerung sieht vor, Ausdrücke zweier onomasiologischer Felder identisch sein zu lassen, sie aber als polysem zu betrachten. Ein Beispiel bildet schlecht unter arm 4 wie unter arm 15. Unter Position 4 bedeutet es ‘schlicht, einfach’, unter 15 würde man es als ‘schlecht, geringwertig’ interpretieren. Die Entscheidung, ab welcher Differenz man eine Einheit als polysem interpretiert, liegt wieder beim Lexikographen.
Weitere Prüfungsverfahren betreffen die Gegensatzausdrücke, die Syntagmen, die Wortbildungen, in denen ein Lemmazeichen pro Bedeutung steht und verlaufen von der Anlage her der gerade vorgeführten onomasiologischen Feldprobe analog. In ihrer Gesamtheit stehen diese Verfahren unter der Absicht (und nun kommt es auf die Formulierung an),

– aus dem Quellencorpus die Bedeutungen frnhd. Wörter ihrer Anzahl und ihrem Schnitt nach so festzustellen, zu entdecken, aufzufinden, wie sie in der Sprachrealität des Frnhd. tatsächlich vorhanden waren und sie – logisch betrachtet danach – in heutiger Fachsprache zu beschreiben, oder

– aus dem Quellencorpus die Bedeutungen frnhd. Wörter ihrer Anzahl und ihrem Schnitt nach so anzusetzen und sprachlich so zu vermitteln, daß sie jedem kritisch Fragenden als trotz der Geschichtlichkeit meiner Beschreibungssprache so begründet erscheinen müssen, daß er meine Ansätze bei vereinfachtem Sprechen in die historische Realität projizieren kann. Dies zweite ist mein persönliches Anliegen.

Für die Praxis spielen beide Hintergrundphilosophen eine um so geringere Rolle, je mehr ich den Gedanken der Begründbarkeit und der geschichtsüberhobenen Vermittelbarkeit meiner Ansätze betone; sie spielen eine um so größere Rolle je mehr ich den Gedanken betone, mit dem Ansetzen von Bedeutungen über Gestaltungsmöglichkeiten in Richtung auf Nutzung geschichtlicher Inhalte für heutige kulturpädagogische Zwecke zu verfügen.

Das Verfahren, das anzudeuten ich vorhin versprochen hatte, ist von ganz anderer Art als die onomasiologische Feldprobe. Es beruht auf der Einsicht, daß die Bedeutungen, die ich für das Frnhd. feststelle bzw. die Bedeutungsansätze, die ich vornehme, zunächst einmal einzelsprach- oder sogar einzelsprachstufenspezifisch sind, also in genau dieser Weise in keiner anderen Sprachgesellschaft der Welt wieder vorkommen; sie sind – und das ist ebenso unstrittig – aber auch einzelsprachstufen- und einzelsprachübergreifend und reichen geographisch und soziologisch dann genau bis zur Grenze desjenigen Raumes oder derjenigen Schichten, die durch eine von anderen unterscheidbare Kultur gezogen ist. Das Bedeutungsspektrum von arm findet sich also in weitgehend vergleichbarer Form in demjenigen von ahd. und mhd. arm, nl. arm, von engl. poor und von frz. pauvre, wohl auch in dem Bedeutungsfeld des tschechischen oder ungarischen Heteronyms wieder. Es ist stärker europäisch, als üblicherweise angenommen wird. Diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, beim Schreiben der Artikel immer zugleich auch die z.B. ahd., nl., engl., frz. usw. Vergleichswörterbücher einzusehen, hat verschiedene Zwecke: Das Finden von Unterscheidungsmöglichkeiten, das Entdecken und möglicherweise die Betonung semantischer Europäismen, die Feststellung der Trägerschaften dieser Einheiten über die Grenze der Einzelvarietät und der Einzelsprache hinaus. Auch dieses Verfahren kann als Beitrag zur Erhöhung der Entdeckungs- und Abbildqualität meiner Darstellung wie als Beitrag zur Erhöhung der kulturellen Gestaltungsqualität interpretiert werden; letztere liegt mir stark am Herzen.

Die zweite vorhin formulierte Frage betraf die Gegenstände der Sachkultur; sie wurden bisher von mir ja an keiner Stelle besonders erwähnt oder gar zum eigenen Darstellungspunkt meines Vortrages gemacht. Dafür gibt es zwei Gründe:

1. Gegenstände der Sachkultur, also Pflüge, Wagen, Achsnaben, Spinnräder, Verrichtungen aus den Gewerben und dem Landbau rangieren hinsichtlich ihres Gewichtes hinter Bezugsgegenständen oder Qualitäten des Typs arm, arbeit, leben, kunst, freiheit. Unabhängig davon werden sie selbstverständlich im Wörterbuch ausführlich beschrieben, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer genauen Sachlichkeit. Schließlich erläutert man eine Bedeutung ja dadurch, daß man Qualitäten des Bezugsgegenstandes angibt und je mehr man dies tut, desto leistungsfähiger wird die Bedeutungserläuterung. Eine Grenze zwischen sog. semantischen und enzyklopädischen Merkmalen würde ich dabei nicht ziehen.

2. Man kommt theoretisch in schwerwiegende Bedrängnis, wenn man Gegenstandsklassen wie den Pflug oder Arbeitsvorgänge im Landbau von Gegenständen bzw. Qualitäten wie arm und freiheit oder leben trennt, indem man von ersteren sagt, sie seien unabhängig von sprachlicher Bezugnahme existent und von den zweiten behaupet, sie seien als solche nur in der sprachlichen Bezugnahme vorhanden. Man würde bei Betonung dieser Unterscheidungen, die ja einsichtig ist, sowohl zwei Methoden wie zwei Theorien brauchen. Ich neige deshalb dazu zu sagen, daß die sog. Sachkultur zumindest sehr weitgehend durch die Art und Weise der sprachlichen Bezugnahme auf ihre Einzelgegenstände bestimmt ist und sich insofern nur graduell von den Gegenständen der geistigen, sozialen usw. Kultur unterscheidet. So wie ich umgekehrt natürlich sagen würde, daß diesem letzteren Typ von Gegenstandsklassen eine irgendwie geartete Existenzform in demjenigen Bereich zugesprochen wird, den man üblicherweise als Begriffswelt bezeichnet und gerne außerhalb der Einzelsprache ortet. Es ist offensichtlich, daß mit der Annahme von reinen Sachgegenständen auf der einen und von so etwas wie Begriffen auf der anderen Seite Positionen bestehen bleiben, deren genauer theoretischer Status außerordentlich schwer zu bestimmen ist. Im FWB wird deshalb nicht vorausgesetzt: Es gibt die große Masse von nicht sachkulturbezüglichen Ausdrücken und dann außerdem noch die Ausdrücke für Gegenstände der Sachkultur, bei deren Beschreibung sich dann die Enzyklopädiefrage stellt. Sondern es wird der Standpunkt zugrunde gelegt, daß alle Ausdrücke und alle Bedeutungs- und Bezeichnungszusammenhänge eine jeweils kulturspezifische Zugriffsweise auf Realität sind und daß ihre Beschreibung somit einen der vornehmsten Schlüssel für kulturhistorische Fragestellungen aller Art bildet.

Dennoch abschließend noch einige Worte zu der Größe ‘Begriff’, die ja in meinem bisherigen Vortrag nur außerordentlich randständig im Spiel war. Dies hat folgenden Grund: Ein Wörterbuch wie das FWB oder das Ahd. Wb. basiert auf einem Corpus von Texten; die lexikalischen Einheiten dieses Corpus werden mit linguistischen Methoden untersucht und so beschrieben, wie es die Textsorte Wörterbuch vorgibt. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen und der Gegenstand meiner Darstellung im Wörterbuch sind Bedeutungen, und Bedeutungen sind sprachliche Gegebenheiten, über die man – in bestimmter Weise – auf Realität bezug nimmt. Es ist deshalb nach meinem Urteil eine fachsprachliche Gedankenlosigkeit, wenn man Wendungen gebraucht wie „der Begriff arm”; „der Begriff Armut”; oder gar „die Bedeutung des Begriffs”.

Zwischen Bedeutung und Begriff sollte also sorgfältiger unterschieden werden. Dies scheint mir am ehesten gewährleistet, wenn Bedeutung im schon mehrfach vorgetragenen Sinne tatsächlich strikt als einzelsprachimmanente Gegebenheit gefaßt wird. Dann aber ist Begriff anders zu bestimmen.

Er kommt als Voraussetzung und als Folge normalsprachlicher Kommunikation auf höchst unterschiedliche Weise zustande; darum kann es hier nicht gehen. Als Wissenschaftler hat man die Möglichkeit, gleiche oder vergleichbare Prädikationen aus den Erläuterungen mehrerer Bedeutungen eines Einzelwortes oder verschiedener Wörter herauszugliedern und zusammenzufassen. Der Begriff wäre dann das auf den Punkt gebrachte inhaltliche Konstrukt des Analysierenden (so A. Lobenstein-Reichmann); er hätte seinen Ort zumindest viel stärker, wenn nicht überhaupt, im Kopf des Analysierenden als die Bedeutung, von der ja vorhin gesagt wurde, sie müsse aus dem Corpus so begründet werden, daß man sie in die sprachliche Realität einer Zeit hineinprojizieren könne. Die Bedeutung wäre damit (gerade als sprachliche Größe, wie vorhin gesagt wurde) samt möglichst vieler zeitgenössischer Konnotationen und mit all ihren inhaltlichen Offenheiten anzusetzen; der historische Semantiker unterläge einer konsequenten kommunikativen Regreßpflicht hinsichtlich jeder seiner Aussagen. Der Begriff dagegen könnte logisch strikter gefaßt werden – wie das ja in der Normalsprache auch der Fall ist –, und er könnte sehr viel interesseabhängiger als die Bedeutungen gehandhabt werden, natürlich ohne daß er damit seinerseits als außerhalb des Bedeutungsgefüges einer Sprache oder eines Sprachbundes stehend gedacht werden müßte. Ein begriffsgeschichtlicher Ansatz, der etwa die Spezifik einzelsprachstufenbezogener Zugriffe auf Realität herausstellen würde, wäre dann ebenso berechtigt wie ein solcher, der, aus welchen pädagogischen oder politischen Gründen auch immer, z.B. den europäischen Charakter des Deutschen besonders betonen würde.

 

Anmerkung: Die mehrseitige Handreichung von O. Reichmann sperrt sich einer sinnfälligen Darstellung im Internet, deshalb verweisen wir die Leser hier auf FWB; hrsg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann; Bd. 2 bearb. von Oskar Reichmann, S. 98–119, Berlin/New York 1994.

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