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Kurz nachgefragt… bei Dr. Brigitte Bulitta

Dr Bulitta erzählt außerdem, was man durch die Arbeit am Wörterbuch über das Leben der damaligen Zeit erfährt und geht auf die Schritte ein, derer es bedarf, bis ein Wort als Eintrag im Wörterbuch zu finden ist. Anschließend geht sie noch auf ihre Erfahrungen bei der Erstellung des kürzlich erschienen Projektfilms ein.

Wie verhält sich das Althochdeutsche zum heutigen Deutsch? Ist unser Wortschatz eher größer oder kleiner geworden bzw. wieviel Althochdeutsch steckt heute noch in unserer Sprache?

Das kann man leicht selber feststellen, indem man sich einen beliebigen althochdeutschen Text ansieht, z. B. folgenden Satz aus dem 11. Jahrhundert: „sose snel snellemo pegagenet andremo so uuirt filo sliemo firsniten sciltriemo.“ Neun dieser elf Wörter gibt es heute noch. Bis auf das Wörtchen so haben sie jedoch ihre Gestalt (Schreibung, Lautung, Flexionsweise) oder ihre Bedeutung verändert. Aus pegagenet wurde begegnet,aus filo wurde viel, aus sciltriemo Schildriemen usw. Das Wort snel bedeutet abweichend vom heutigem schnell ‚flink, kampflustig’, das Wort firsniten (= verschnitten) bedeutet im Kontext ‚zerschnitten’ und nicht etwa ‚kastriert’. Bei den ausgestorbenen Wörtern handelt es sich um das Adverb sliemo ‚schnell, unverzüglich’ und die Konjunktion sose ‚sobald, wenn’. Bleibt man eng am Text, könnte man ihn ungefähr folgendermaßen in unser heutiges Deutsch umsetzen: „Sobald ein ‚Schneller’ (Kampflustiger) einem anderen ‚Schnellen’ (Kampflustigen) begegnet, so wird ‚viel schleunig’ (sehr schnell) der Schildriemen [die Halterung des Schildes, Anm. d. Red.] durchtrennt.“

Auswertungen des Althochdeutschen Wörterbuchs ergeben, dass bezogen auf die heutige Schriftsprache durchschnittlich etwa jedes fünfte Wort weiterlebt. Bezieht man die Dialekte mit ein, ist es etwa jedes dritte Wort.

Man könnte zwar vermuten, dass unser heutiger Wortschatz aufgrund der Technisierung und Globalisierung umfangreicher geworden ist, doch ist auch zu bedenken, dass Sachbereiche und damit die sich auf sie beziehenden Wörter wieder wegfallen. Unbestreitbar ist, dass sich die Menschen auch in mittelalterlicher Zeit über alle Lebensbereiche verständigen und ihre Bezeichnungsbedürfnisse adäquat stillen konnten. Nur sind eine unbekannte Anzahl althochdeutscher Wörter schlichtweg nicht überliefert.

Welcher Schritte bedarf es, bis ein Wort als Eintrag im Wörterbuch zu finden ist?

Es bedarf sehr vieler einzelner Schritte: Jedes Wort der althochdeutschen Sprache ist aus dem Umfeld der lateinischsprachigen Schriftlichkeit heraus zu ermitteln. Es muss lemmatisiert (d. h. auf eine normalisierte Grundform zurückgeführt) und grammatisch wie semantisch beschrieben werden. Dabei müssen die Überlieferungsbedingungen und Verwendungskontexte einer jeden Wortform genauestens berücksichtigt werden. Für die Ermittlung und das Verständnis des lateinischen Umfelds fällt sehr viel Rechercheaufwand an. Dann kann der Übersetzungs- oder Aneignungsprozess der mittelalterlichen Schreibgelehrten nachvollzogen und beurteilt werden. Neben unzähligen kleinteiligen Analyseschritten fallen auch sehr viele Prüfvorgänge auf Basis der vorhandenen Forschungsliteratur an.

Die gewonnenen Erkenntnisse werden abschließend in eng verdichteter Form zu einem Wörterbuchartikel zusammengefasst, der vorrangig der sprachwissenschaftlichen Grundlagenforschung dient, aber durchaus auch für alle an Sprache Interessierten spannend sein kann.

Welche Arten der Quellen liegen Ihnen vor und was erfahren Sie daraus auch über den Alltag und die Gesellschaft im Mittelalter?

Wir haben sehr unterschiedliche Quellen, die weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen und einen Bogen über Texte der Antike und Spätantike bis in das Mittelalter spannen. Der weitaus größte Teil der althochdeutschen Überlieferung steht in Bezug zur lateinischen Überlieferung.

Inhaltlich handelt es sich um Texte des religiös-geistlichen Bereichs (Bibel, Bibelkommentierung, Gebete) und um profane Wissenstexte aus dem damaligen Fächerkanon. Beliebt waren auch Wörtersammlungen enzyklopädischen Charakters. Weniger stark vertreten sind Quellen ohne Bezug zum Latein, die aus der germanischen Tradition kommen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Bereiche des Alltags oder der Gesellschaft nicht zu Tage treten würden. Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel thematisiert das Leben im Kloster, Beichtformulare informieren über sündhaftes Verhalten, Rezeptvorschriften und Segenssprüche über Heilungsmethoden, Gedichtzeilen über die für einen Klostergarten typischen Pflanzen und Sachvokabulare über Wortschatzbereiche wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, Waffen oder andere Gerätschaften.

Gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen sind Sie in dem kürzlich veröffentlichten Projektfilm der SAW Leipzig zu sehen. Wie war das für Sie, Ihre Arbeit auf diesem Weg der Öffentlichkeit vorzustellen?

Einen Film über das Wörterbuchprojekt mitgestalten zu dürfen, war eine spannende Erfahrung. Dem Filmteam der Hochschule Mittweida und unserer Referentin für Öffentlichkeitsarbeit Agnes Silberhorn ist es gelungen, diesen sperrigen Gegenstand sehr kompetent und ansprechend zu vermitteln. Die positive Resonanz, die der Film bislang erfahren hat, ist für uns alle sehr motivierend.

Zum Interview: https://www.akademienunion.de/presse/kurzinterview/kurz-nachgefragt-bei-dr-brigitte-bulitta
Zum Projektfilm des Althochdeutschen Wörterbuchs: https://youtu.be/mDwsv9VJBJE
Termine
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Akademie-Forum: "Gender in Grammatik und Sprachgebrauch" 28.06.2024 16:00 - 18:00 — Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 1, 04107 Leipzig
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